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Besuch bei den Frauen der Gemeinschaften Misak und Nasa

Foto: Peter Musch

Die Region um Silvia ist das traditionelle Siedlungsgebiet der MISAK und der NASA. Die Verfassung Kolumbiens garantiert den Indigenen in ihren Gebieten, Resguardos genannt, weitgehende wirtschaftliche und politische Autonomie.

Neben der Selbstverwaltung und der eigenen politischen Macht, existieren eine eigene Justiz sowie eigene Gesundheits- und Bildungseinrichtungen. Darüber hinaus war man auch bestrebt, die vielfältigen Formen der kollektiven Bewirtschaftung des Landes und einer gemeinsamen Ökonomie zu bewahren. Da die Zone auch von großer strategischer Bedeutung ist war bereits seit Ende der 1960-er Jahre die linke FARC-Guerrilla hier aktiv, welche die Autorität und Legitimität der indigenen Behörden vollständig ignorierten. Ab Mitte der 2000-er Jahre kam es zu immer härteren Auseinandersetzungen mit den Paramilitärs des „Bloque Calima“, die ab dieser Zeit auf Drängen und mit Finanzierung von Unternehmern und Drogenhändlern immer stärkere Präsenz zeigten. Hunderte Zivilpersonen, darunter eine große Zahl von Indigenen fielen diesen Auseinandersetzungen zum Opfer. Allein in den letzten 20 Jahren wurden mehr als 23.000 Fälle von Verletzungen der Menschenrechte der Nasa bekannt, was den kolumbianischen Verfassungsgerichtshof noch im Juni 2016 zur Anordnung von dringenden staatlichen Schutzmaßnahmen für diese indigene Gemeinschaft veranlasste. Von Guerilla und Paramilitärs wechselseitig der Kollaboration mit der jeweils anderen Gruppe bezichtigt, von der regulären Armee oft nur als Hindernis für die effiziente Durchführung der militärischen Aktionen betrachtet, standen Misak und Nasa permanent im Kreuzfeuer der Auseinandersetzungen, waren Opfer von Morden, Einschüchterung und Entführungen. Nicht selten kam es vor, dass die BewohnerInnen ihre Dörfer aufgrund von bewaffneten Auseinandersetzungen in aller Eile verlassen und in einer rauen Umgebung, den Unbilden des Klimas ausgesetzt, wochenlang auf eine halbwegs sichere Rückkehr warten mussten.

Vielen erinnern sich auch noch mit Schrecken an die Totaleinnahme der Stadt durch die FARC am 19. Mai 1999, als die auf über die fünf Hauptstraßen der Stadt auf die Polizeistation vorrückenden Guerilleros durch Einsatz von Explosivstoffen das Leben der Zivilbevölkerung in Gefahr brachten.

Das Leben inmitten von verfeindeten und bewaffneten illegalen Akteuren und ohne staatliche Autorität, die in der Lage und willens gewesen wäre, die Sicherheit der Zivilpersonen zu garantieren, wurde zu einer Konstante der Bedrohung. Der fast vollständige Zusammenbruch der so wichtigen Einkommensquelle Tourismus tat ein Übriges für die beinahe vollständige Marginalisierung dieser Region.

Foto: Ruth Sierra León - Peter Musch

Zu Ostern 2014 erregte ein offener Brief der EinwohnerInnen Silvias an die Verhandler in Havanna großes Aufsehen, in dem diese eindringlich um ein Ende der Feindseligkeiten baten.

Zielscheibe für Gewalt unterschiedlicher Akteure zu sein ist für die Gemeinschaften der NASA und MISAK keine neue Erfahrung: Seit der Zeit der Conquista und der spanischen Kolonialherrschaft wurden sie unterjocht und ihre Rechte, ihre Traditionen missachtet, ihr Land geraubt. So wurde das Volk der Misak unter der Bezeichnung „Guambiano“ und die Gemeinschaft der Nasa als „Paéz“ bekannt, aber zu ihrem jahrhundertelangen Kampf um Selbstermächtigung gehört es, auch die Hoheit über ihre eigene Volksbezeichnung zurückzugewinnen, was angesichts von gewaltsamen Vertreibungen etwa ins Nachbardepartment Huila nicht leicht war.

Dieser Hintergrund und das allgemeine Interesse, die Region der MISAK und NASA, ihr Territorium, Menschen, Kultur und Landschaft kennenzulernen, waren Grund genug für uns, diese beeindruckende Region im Januar 2017 zu besuchen. Wir fanden sattgrüne bezaubernde Landschaften und saubere, frische Luft vor, der Beiname „Schweiz Lateinamerikas“ kommt nicht von ungefähr.

In Silvia wartete neben der Hauptstraße Inés Flor Cuchillo bereits auf uns, eine indigene Führerin der Misak, deren sanftes Auftreten und bedachte Sprechweise leicht über ihre politische Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit hinwegtäuschen kann. Wir sollten einige Tage Gäste im Haus ihrer Familie am Rand von Silvia sein.

Foto: Ruth Sierra León - Peter Musch

Während ein erbarmungsloser Starkregen, der auch noch die nächsten Tage ein treuer Begleiter ist, die nicht asphaltierten Teile der Stadt in eine Schlammwüste verwandelt, erzählt Inés Flor uns, wie ihr Wunsch, eine indigene Führerin zu werden, wahr geworden ist. Schon als junges Mädchen habe sie sich entschieden, nie kochen lernen zu wollen, da sie sah, dass diese Arbeit zur Isolation der Frauen führte und dazu, dass diese versteckt und weggeschlossen würden. Für sie war klar, dass diese „harmlose“ häusliche Tätigkeit die weibliche Arbeit unsichtbar mache und sie daran hinderte, sich aktiv in die Entscheidungen über ihr „Territorium“ einzubringen. Statt sich der Küche und Haushalt zu widmen, ging Inés Flor ihrer Leidenschaft, dem Fußballspiel, nach, was nicht selten zu gewaltigen Irritationen mit der Umgebung und ihren Eltern führte. Dieser auch in ihrer indigenen Gemeinschaft als geradezu skandalös angesehene Akt des Aufbegehrens habe sie früh Gewissheit darüber erlangen lassen, in welche Richtung sie ihr Leben orientieren wolle: an der aktiven Teilhabe an den Entscheidungen ihres Volkes.

Egal ob der Zankapfel mit den Altvorderen ihre Neigung zum Fußballspiel oder ihr Wunsch sich anders zu kleiden gewesen sei: Inés gibt uns zu verstehen, dass dieses Widerborstige schon tief in ihr verankert gewesen sei, lange bevor in Kontakt mit Menschenrechts- und Frauenorganisationen wie der „Ruta pacífica de las mujeres“ kam, die sie nicht nur dazu ermunterten, einen Bildungsprozess zu beginnen und Leadership-Methoden zu erlernen, sondern auch ihrem rebellischen Geist einen koordinierten Ausdruck zu geben. Als Koordinatorin des Programms „Mujeres in acción“ setzte sie sich als „Mittlerin“ („facilitadora“) für das Empowerment der indigenen Gemeinschaften der Nasa, Quisgó und Misak und der Kleinbäuerinnen der Region ein.

Unterstützt von Frauen der Gemeinschaft und des indigenen Rats rief sie die Organisation „proceso de mujeres Misak“ ins Leben. Zusammen mit den auch von ihr ausgebildeten Multiplikatorinnen brachten sie Themen zur Sprache, die bis dato unerhört waren: Intrafamiliäre Gewalt und Umgang damit, Geburtenkontrolle, sexuelle Rechte und Fortpflanzungsrechte, sexuell übertragbare Krankheiten, psychologische Probleme, das Frauengesetz Nr. 1257, Gesundheit, Kommunikation.

Für Inés Flor ist der Kampf um Anerkennung der indigenen Gemeinschaft und die Bewahrung ihrer Kultur und der Kampf für die Autonomie der Frauen innerhalb dieser Gemeinschaft kein Widerspruch. Jenen Männern der Gemeinschaft, die ihr vorwarfen, mit diesem „westlichen Wissen“ ihre uralte Kultur zu verraten, versuche sie, durch Verweise auf jene Passagen des „Lebensplans“ der Misak den Wind aus den Segeln zu nehmen, in denen festgestellt würde, dass es keine Aufgaben gibt, die speziell einem Geschlecht vorbehalten sind. Die Misak seien die erste Gemeinschaft gewesen, die Ende der 1980-er Jahre einen solchen „Lebensplan“ erstellt hätten, um den für sie entworfenen „Entwicklungsplänen“ einen eigenen Ansatz entgegenzusetzen, eine ureigene Vision der Zukunft als Gemeinschaft, eine Plattform der Verteidigung gegen den Staat, ein Mittel und ein Weg, um neue Lebensbedingungen für ihr Volk auf Grundlage seiner eigenen Kosmovision zu erreichen Dieser Lebensplan basiere auf vier Säulen: Territorium, Autonomie, Identität, Selbstbestimmung.

Foto: Ruth Sierra León - Peter Musch

Die mehr als 20 Frauen, die Inés Flor bei ihrer Initiative unterstützen, sind in ganzen unterschiedlichen Spezialgebieten ausgebildet, die dazu dienen, das Wissen (wie etwa um Heilkräuter) um Territorium und Körper, die für die MISAK eine Einheit bilden, weiterzugeben.

Inés Flor schildert, dass die Frauen bis zu 68 tägliche Arbeiten ausführen, die auf keine Weise entlohnt werden. Daher sei es wichtig, die Arbeit dieser Frauen und ihre aktive Rolle bei der Wiedererlangung der durch die Gewalt betroffenen Territorien sichtbar zu machen. Wenn man die Frauen stärke, würde man damit gleichzeitig die Gemeinschaft stärken, die Männer gelte es als Mitstreiter gewinnen.

Inés Flor hat für uns am nächsten Tag in Pitayó ein Treffen mit einer Gruppe von Nasa-Frauen organisiert, die in einer „Spargruppe“ aktiv sind. Das noch höhere gelegene Dorf ist nur etwa eineinhalb Stunden Fahrt mit dem Jeep von Silvia entfernt, dennoch fühlt man sich hier nochmals in eine andere Welt versetzt. Einige der 35 Frauen, die uns hier in der Schule des Ortes erwarten, haben einen Fußmarsch von mehreren Stunden hinter sich, nur um an diesem Treffen teilnehmen zu können. Die Führerin dieser Gruppe, Maria Teresa Higidio, verströmt eine Aura von Abgeklärtheit und Kraft zugleich. Man spürt, dass sie den Schmerz, den jede „ihrer Frauen“ in sich trägt, kennt. Auch Judy Andrea Mensa Calandez ist anwesend, eine „Kommissarin“ des überwiegend von Männern gebildeten indigenen Rats, des „Cabildo“, der gerade heute wieder tagt. Voll Stolz trägt sie ihren langen Stock als sichtbares Zeichen ihrer Würde.

In der Begegnung mit diesen Menschen wird klar, dass die Gewalt hier tiefe Spuren nicht nur in den Gesichtern hinterlassen hat.

Die Frauen erzählen uns von der Hoffnung auf ein Stück Freiheit und Autonomie, welche die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe der Sparerinnen für sie darstellt. Ja, am Anfang habe großes Misstrauen geherrscht, Sparen sei eine vollkommen unbekannte Praxis für sie gewesen, man habe nie gedacht, dass Sparen überhaupt möglich sei, da es ja oft nicht einmal für das Notwendigste reiche. Die Misstrauischsten haben nur einige wenige Pesos angespart. Doch das Projekt habe funktioniert und viele weitere Frauen zum Mitmachen bewegt. Nun sind es insgesamt schon 62 Gruppen mit jeweils zwischen 15 und 30 Frauen. Diese Gruppen sind vollkommen autonom in ihrer Entscheidung, wie viel monatlich gespart wird. Heute könne man sich mit dem Ersparten und den von einer amerikanischen Stiftung unterstützten Mikro-Krediten nicht nur die Erhaltung kleiner Läden, die Bewirtschaftung von Gärten oder den Kauf von Hühnern leisten. „Wir Frauen können mit dem Geld viel besser umgehen als die Männer“, erzählt uns eine der jüngeren Teilnehmerinnen lachend. Einige Teilnehmerinnen träumen sogar davon, sich eines Tages eine Reise ans Meer zu leisten.

Offensichtlich ist auch: Das Thema des Sparens ist hier nur ein Aspekt, viel wichtiger ist es, Erfahrungen mit anderen Frauen teilen zu können, zu erzählen und zuzuhören. Bewohnerinnen der Vereda „La Mariposa“ erzählten uns von Isoliertheit und Einsamkeit inmitten des bewaffneten Konflikts, von der Regierung hätten sie noch nie etwas gehört oder bekommen, schon gar nicht Hilfe für den Aufbau einer elementaren Infrastruktur oder Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Traumata. Die konkrete Gewalt anzusprechen, fällt uns schwerer als den Frauen selbst. Wir wagen es kaum, den Frauen ins Gesicht zu sehen, als sie von ermordeten, entführten oder bedrohten Familienangehörigen und Freunden erzählen oder davon, wie sie in einer Ortschaft, die Errichtung einer Polizeistation erfolgreich verhindert hätten, die für sie nicht mehr Sicherheit sondern im Gegenteil eine noch größere Bedrohung und Exponiertheit bedeutet hätte.

In den vier Jahren der offiziellen Verhandlungen der Guerilla mit der Regierung in Havanna sei eine bis dahin unbekannte Ruhe eingekehrt. Als sich die kolumbianische Bevölkerung im Oktober letzten Jahres in einem Plebiszit gegen das Friedensabkommen mit der FARC habe man die Wiederkehr des Grauens befürchtet und sich tagelang nicht auf die Straße getraut.

Wir fragen die Frauen, was wir von Österreich aus für sie tun könnten. Ihr Wunsch ist klar. Sie möchten, dass ihre Projekte sichtbar gemacht werden, dass ihre Existenz überhaupt wahrgenommen wird, aber auch, dass man ihre Rolle als aktive Mitgestalterinnen der Entwicklung und der Kultur ihres Territoriums anerkennt.

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